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Digitalisierung – eine Dystopie für den modernen Menschen?

Zum Abschluss der Vortragsreihe anlässlich des 50-jährigen Schuljubiläums hatte die Schulfamilie des Robert-Schuman-Gymnasiums in Cham den Journalisten Tobias Haberl, Abiturjahrgang 1995, als Referenten eingeladen. Dieser war gerne an sein altes Gymnasium zurückgekehrt, mit dem er viele schöne Erinnerungen verbindet und dessen liberale und humanistische Wertekultur er stets als sehr bereichernd empfunden hatte. Für diese wertvolle Wissens- und Wertevermittlung dankte er stellvertretend seinen ehemaligen Lehrern Hans Koller und dem unlängst verstorbenen Max Altmann, deren liebevoll-strenge und menschliche Pädagogik ihn sehr geprägt hatte. Nach dem Abitur habe er sich zunächst einmal Zeit genommen und „herumgeschildkrötelt“, bevor er in Würzburg und Middlesbrough Germanistik und Anglistik studierte. Für den Beruf des Journalisten habe er sich erst spät entschieden und sich nach einem Praktikum bei der Chamer Zeitung kurzentschlossen bei der Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg beworben, wo er auch angenommen wurde. Seit 15 Jahren ist er nun Autor beim Magazin der Süddeutschen Zeitung.

Seinen Vortrag am RSG mit dem Titel „Schöne neue Welt: Welche Gefahren uns im digitalen Zeitalter drohen und welche Werte wir verteidigen sollen?“ hatte Tobias Haberl der Digitalisierung gewidmet. Die ebenso aktuelle wie spannende Thematik beschäftige ihn schon länger und sei auch das Thema des Buches, an dem er derzeit arbeite. Dabei wolle er sich dem in allen Medien präsenten Phänomen in essayistischer Weise aus philosophisch-gesellschaftskritischer Perspektive nähern und somit für die „Entzauberung“ unserer Welt durch das trügerische Glück des Fortschritts sensibilisieren.

Zunächst relativierte er die vielfach hervorgehobene Besonderheit der Digitalisierung durch den Verweis auf die Technologiegeschichte der Menschheit. Es habe stets bahnbrechende Entwicklungen gegeben, die nach Phasen des ersten Jubels und daraufhin einsetzender kritischer Stimmen ihren festen Platz im Leben der Menschen erobert und behauptet hätten. Da sich die technische Entwicklung, im aktuellen Fall also die Digitalisierung, in jedem Fall durchsetzen werde, dürfe er durchaus streng mit ihr ins Gericht gehen, entschuldigte Haberl augenzwinkernd seine bewusst etwas einseitig gehaltenen Ausführungen:

In jedem Fall werde die Digitalisierung eine Zäsur darstellen, doch komme es darauf an, den technologischen Fortschritt mit der Würde des Menschen in Einklang zu bringen, was er an mehreren Beispielen verdeutlichte: So sei es in Spanien Forschern gelungen, ein Programm zu entwickeln, das innerhalb weniger Stunden ein klassisches Musikstück komponieren könne, in Japan sei sogar schon ein von einem Computer verfasster Roman sogar in die zweite Runde eines Literaturwettbewerbs gekommen. Ein gehörloses Frauenpaar habe sich mithilfe modernster Gentechnik ein ebenfalls taubes Kind „kreieren“ lassen. Eine Amerikanerin habe, tiefbetrübt über den Tod ihres Katers, diesen klonen lassen und eine junge Frau habe ihren bei einem Unfall ums Leben gekommenen Freund via Chatbot digital „wieder zum Leben erweckt“. All diesen Fällen sei gemeinsam, dass sie zwar auf den ersten Blick einer tröstlichen Motivation entspringen, bei genauerer Betrachtung aber gespenstisch, ja unmenschlich seien, da sie die Menschlichkeit leugnen und Mensch und Tier zu einer beliebig reproduzierbaren Datenmenge herabwürdigen. In gleicher Weise seien gerade die im Silicon Valley betriebenen Forschungen zur Erfindung eines künstlich zu schaffenden ewigen Lebens durch kryostatische Methoden o.ä. skeptisch zu sehen, da sie sogar das Menschlichste überhaupt, nämlich den Tod, nicht mehr akzeptieren.

Doch setzt die Digitalisierung nicht nur bei der Datenmenge „Mensch“ an, sondern kontrolliert und manipuliert den Menschen auch in einer freundlichen, aber letztlich eben doch existenten Diktatur. Haberl erinnerte in diesem Zusammenhang an das u.a. von Facebook-Gründer Mark Zuckerberg geäußerte Zitat: „Wer nichts zu verbergen hat, hat nichts zu befürchten.“

Wie nah aber damit die Digitalisierung einer Diktatur kommt, zeigt das Beispiel China, wo durch einen Citizen Score nicht nur Daten über die einzelnen Bürger archiviert und analysiert werden, sondern diese auch als Kriterium für die Belohnung oder Bestrafung der Bürger herangezogen werden. Die Freiheit des menschlichen Handelns ist in China dadurch offensichtlich beeinträchtigt, doch gilt es zu hinterfragen, inwieweit die Global Player wie Facebook, Amazon etc. unsere westliche Gesellschaft unbemerkt unterwandern, steuern und verändern. Nicht zu leugnen sei die Medienabhängigkeit vieler Jugendlicher, Burnout und auch kleine Verhaltensänderungen wie eine wachsende Ungeduld. Die Gemeinschaft in sozialen Netzwerken dürfe auf keinen Fall mit einer zwischenmenschlichen Solidargemeinschaft verwechselt werden.

Ohne Frage habe die Digitalisierung viele Vorteile, doch sei die Entwicklung janusköpfig: Die Digitalisierung schafft neue Arbeitsplätze und zerstört alte, sie erleichtert unser Leben auf vielfältige Weise, setzt uns zugleich aber unter Stress und überfordert uns, sie ermöglicht es uns, jederzeit mit jedem in Kontakt zu treten, und führt zugleich zu einer Gesellschaft ohne Abstand, dem Verlust des gesunden Verhältnisses von Nähe und Distanz, sie macht die Welt für uns kleiner und überschaubarer, doch verstellt sie auch oft durch Filterung der Daten den Blick auf das Wesentliche.

Denn wie Handysucht und die Angst um die Sicherheit der Daten deutlich machen, besitzt die Digitalisierung ein gewaltiges Potential zur Unterwerfung des Menschen, was nicht zuletzt von einigen „Vätern“ der Digitalisierung wie Tristan Harris auch artikuliert wird.

Zuletzt aber, so Haberl, bestehe die Gefahr der Entzauberung der Welt durch die Möglichkeiten der Technik und es drohe eine kalte herzlose Welt ohne Überraschungen. Denn schließlich komme es ja genau darauf an, eigene Erfahrungen zu machen und dabei auch an seine Grenzen zu stoßen, um durch die Begrenztheit des Menschseins auch ein Gefühl der Ehrfurcht erleben zu können. Denn nur die menschliche Begrenztheit und der Wagemut des Einzelnen, diese zu überschreiten, machen das Leben aus. Gefühle und Erfahrungen lassen sich nicht digital produzieren, sondern müssen analog gelebt werden. Ein Lied ist mehr als nur eine künstlich gesetzte Folge von Harmonien und, selbst wenn sie von einem perfekten Algorithmus geschaffen sind, so fehlt ihnen das Herz. Was wären Beethovens Werke ohne die Qualen des taub werdenden Künstlers, was die Songs von Nirvana ohne Kurt Cobains seelische Zerrissenheit? Der Mensch ist mehr als nur eine Ansammlung von Daten und mehr als nur seine Arbeitskraft. Dies gelte es beim Umgang mit der Digitalisierung stets zu bedenken. Und so beendete Tobias Haberl seinen Vortrag mit den Worten Stephen Hawkings: „Unsere Zukunft ist ein Wettlauf zwischen der wachsenden Macht unserer Technologien und der Weisheit, mit der wir davon Gebrauch machen. Wir sollten sicherstellen, dass die Weisheit gewinnt.“

Für diesen Appell für die Menschlichkeit erntete Tobias Haberl Beifallsstürme des interessierten Publikums, das in der anschließenden offenen Diskussion noch viele tiefgehende Fragen stellte. Zum Dank für diesen wahrhaft (sc)humanistischen Vortrag überreichten die stellvertretende Schulleiterin Angela Schöllhorn und Mitarbeiter Berno Secknus dem Referenten eine Eule als Symbol der Weisheit und die Festschrift der Schule.

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