In der Welt zu Hause
Die Schumanistin Theresa Mückl berichtet über ihr Austauschjahr 2021/22 in Estland
Angefangen hat mein Abenteuer zuhause, in Cham, am RSG. Während des Deutschunterrichts hörte ich von einer Lehrerin zum ersten Mal von den Möglichkeiten eines Auslandsaufenthaltes während oder auch nach der Schulzeit. Sofort war ich begeistert von dieser Idee und machte mich daran, einen konkreten Plan auszuarbeiten. Ich entschied mich dafür, während der 10. Klasse zehn Monate lang bei einer Gastfamilie ein Austauschjahr zu verbringen. Meine Beweggründe hierfür waren vor allem die unglaubliche Neugier, die ich von Natur aus habe, mein Fernweh und der starke Drang, etwas Neues entdecken zu wollen.
Bald fand ich dann auch im Deutschen Youth For Understanding Komitee e.V. (auch kurz YFU Deutschland) eine für mich passende Austauschorganisation. Bei der Suche fiel mir YFU sofort dadurch auf, dass es sich um eine gemeinnützige und somit nicht profitorientierte Organisation handelt, mit der seit 1957 über 60.000 Jugendliche ein Schuljahr im Ausland verbracht haben. Endgültig möglich machte meinen Traum schließlich ein Stipendium der Aumüller Druck GmbH & Co. KG aus Regensburg.
Dann ging es für mich an die Länderwahl und ich entschied mich für das kleinste Land im Baltikum: Estland. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt nur, dass dort an Weihnachten traditionell Blutwurst mit Sauerkraut gegessen wird. Ich kann nicht genau sagen, warum ich mich ausgerechnet für Estland entschieden habe, aber für mich stand fest, dass ich in ein Osteuropäisches Land gehen möchte, mit einer mir völlig unbekannten Sprache.
Ich wurde dann zusammen mit anderen zukünftigen Austauschschülerinnen und -schülern im Rahmen einer Vorbereitungstagung, die coronabedingt digital stattfinden musste, über die bevorstehende Zeit im Ausland informiert. Dabei wurden uns einige sehr hilfreiche Tipps mit auf den Weg gegeben.
Ehe ich mich versah, bekam ich bereits die frohe Botschaft: Ich hatte eine Gastfamilie! Die Familie, die sich bereit erklärt hatte, mich aufzunehmen, besteht aus meinen beiden Gasteltern, drei Schwestern, im Alter von 9, 15 und 18 Jahren, sowie meinem Gastbruder, der aber in einem anderen Haus des Grundstückes wohnt. Zur Familie gehören außerdem die Schildkröte Tupla und der Hase Somet. Ich war überglücklich und so gespannt, dass ich sofort mit der estnischen Familie Kontakt aufnahm. Was dann passierte, hätte ich mir nicht im Traum vorstellen können: Meine Gastfamilie lud mich zum gemeinsamen Urlaub nach Griechenland ein, so dass wir uns noch vor Beginn meiner Zeit in Estland kennenlernen konnten. Bald war es so weit und ich traf Anfang August an einem Flughafen in Griechenland zum ersten Mal auf meine estnische Gastfamilie. Bereits durch den gemeinsamen Urlaub wurde klar, dass ich mich mit ihnen sehr wohl fühlen würde. Von Beginn an harmonierten wir wunderbar und ich wurde unfassbar herzlich aufgenommen.
Nach dem Urlaub mit meiner Gastfamilie blieben mir noch einige wenige Tage in Deutschland, die ich hauptsächlich damit verbrachte, mich von meinen Liebsten zu verabschieden und meine zwei großen Koffer zu packen. Und ehe ich mich versah, stand ich vollbepackt am Frankfurter Flughafen, wo ich mich von meinen Eltern verabschiedete und mich somit endlich auf den Weg in mein Abenteuer machte. An meine gemischten Gefühle erinnere mich genau. An diese letzten Tagen in Deutschland, die mir so surreal vorkamen. Denn natürlich war es kein leichtes Unterfangen, sich verabschieden zu müssen. Dabei half mir aber die Gewissheit, dass die Trennung ja nur für eine begrenzte Zeit sein würde. Gleichzeitig überkam mich immer wieder eine überwältigende Vorfreude auf meine Gastfamilie und die bevorstehenden Erlebnisse.
Natürlich flog ich nicht allein, sondern mit allen Austauschülerinnen und -schülern, die genau wie ich ihre Reise nach Estland antraten und zu diesem Zeitpunkt meine Gefühle teilten.
Am 15. August 2021 setzte ich dann erstmals meine Füße auf estnischen Boden und blickte in den sommerlich blauen Himmel. Nach der Ankunft verbrachten alle Austauschschüler gemeinsam zunächst vier Tage in einem Camp, wo ich die Möglichkeit hatte, die anderen 47 Jugendlichen aus Deutschland, Japan, Belgien, Italien, der Schweiz, Ecuador, Spanien, Argentinien und weiteren Ländern kennenzulernen, die genau wie ich ihr Auslandsjahr antreten wollten. Wir wurden dort durch zahlreiche Workshops, Gruppenarbeiten, Gespräche, und Kultur- sowie Sprachunterricht auf die bevorstehenden Erfahrungen und Erlebnisse vorbereitet. Die vier Tage vergingen wie im Flug und wir wurden nach einer feierlichen kleinen Zeremonie von unseren Familien abgeholt. Von meinen Gasteltern wurde ich mit den Worten „lähme koju“ begrüßt, was übersetzt „Lass uns nach Hause gehen!“ bedeutet.
In diesem neuen Zuhause angekommen fing ich sofort damit an, einzuziehen, bekam eine Führung durch das gesamte Haus mit Garten, wir aßen Kuchen und ich räumte mein Zimmer ein. Bevor mir mein erster Schultag bevorstand, verbrachte ich viel Zeit mit meiner Familie, erkundete ein wenig die nähere Umgebung und fand schnell meinen Platz im Leben meiner Gastfamilie. Dabei wurde mir abermals bewusst, dass ich nicht nur eine Gastfamilie, sondern ein Zuhause in Estland gefunden hatte. Ehe ich mich versah, stand auch schon mein erster Schultag am „Tallinna Nõmme Gümnaasium“, einer weiterführenden Schule vergleichbar mit einem deutschen Gymnasium, bevor. Ich besuchte die 11 humanitar, das heißt den humanistischen Zweig, meiner Jahrgangsstufe. Dass Schulen hierzulande viel traditionsbewusster sind, bemerkte ich sofort, als der erste Schultag, jährlich am ersten September, mit einer Versammlung in der Aula, mit Fahnenträgern und gelb-grünen Schulkappen, sowie dem Singen der Nationalhymne begann. Nach dieser Anfangszeremonie ging es für meine Klasse in unseren Klassenraum, wo wir unserer Klassleitung Blumen schenkten. Meine Klasse hat mich sofort liebevoll empfangen und es war schnell klar, dass ich in ihr bereits Freunde gefunden habe. Der Unterricht unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht vom deutschen Unterricht: Zuallererst einmal betrifft das die Fächer, so wird Russisch ab der 6. Klasse verpflichtend unterrichtet, wahlweise kommen dann im Laufe der Schulzeit Fächer wie „Nationale Verteidigung“, „Wirtschaft und Sozialwissenschaften“, „Philosophie“, „Archäologie“, „Kunstgeschichte“ oder auch „Literatur“ hinzu. Dieses Angebot ist allerdings stark von der jeweiligen Schule abhängig. Im Allgemeinen sind Schulen in Estland selbstständiger und fällen Entscheidungen eigenständig. Die Digitalisierung ist hier schon weit vorangeschritten. Ein gutes Beispiel dafür ist vor allem eine App, über die jegliche schulinternen Angelegenheiten wie Abwesenheiten oder Ankündigungen geregelt werden. Insgesamt würde ich aber dennoch die Bilanz ziehen, dass sich die Schule nicht gravierend von der in meinem Heimatland, also dem RSG in Cham, unterscheidet.
Nach den ersten vier Monaten war ich dann auch langsam in der Lage, dem Unterricht zu folgen, da ich dann begonnen habe, die estnische Sprache größtenteils zu verstehen. Dadurch konnte ich auch einiges vom Unterrichtsstoff begreifen und lernen. Mit den ersten Sprachkenntnissen wurde es sehr viel einfacher im Alltag. So war ich auch unabhängiger von der englischen Sprache, die zwar der Großteil der Esten beherrscht, aber eben nicht alle. Mittlerweile bin ich absolut in der Lage Estnisch zu verstehen und ich kommuniziere vermehrt ausschließlich auf Estnisch. Es freut mich immer wieder aufs Neue, wenn ich merke, wie ich im Lernen dieser neuen Sprache Fortschritte mache. Bald werde ich sogar ein Sprachexamen ablegen. Es macht mich sehr stolz, die Sprache meines Gastlandes zu beherrschen, denn das war von Anfang an mein großes Ziel. Dieses Ziel habe ich nun – wie ich finde – richtig gut gemeistert.
Und noch viel mehr habe ich erreicht: Ich habe in Estland ein neues Zuhause gefunden. Ich bin in den normalen Alltag eines Landes integriert, von dem ich anfangs noch nicht einmal die Sprache beherrschte. Ich habe bereichernde Erfahrungen gemacht und neue Freunde aus aller Welt gefunden.
Ich lebe mein Leben hier mit dem Wissen, dass meine Zeit in Estland irgendwann ein Ende nehmen wird und ich schaue mit einem lachenden und einem weinenden Auge auf mein Abenteuer hier zurück. Ich werde mit sehr vielen Erlebnissen, die mir Estland geschenkt hat, nach Deutschland zurückkehren und mit der Gewissheit, ein zweites Zuhause in einem Land zu haben, das mir nun nicht mehr fremd ist. Mir ist bewusst, dass dieses Jahr mein Leben verändert hat und all meine Wege weiterhin stark beeinflussen wird. Nun verstehe ich endlich den Leitspruch der Austauschorganisation YFU „Die Welt ist dein Zuhause“. Denn das habe ich in Estland erfahren dürfen: Die Welt ist wahrlich mein Zuhause.
Theresa Mückl