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Du sollst dir kein Bildnis machen!

21. Juli 2023

In einer ehemaligen kirchlichen Schule mit einem ehemaligen jüdischen Gebetsaal das Parabelstück „Andorra“ aufzuführen – das hat schon was. Am Tag des deutschen Widerstands gegen das Hitlerregime Typen wie den Doktor, den Soldaten oder den Pfarrer von Unwissenheit, Unschuld und Ahnungslosigkeit reden zu hören – das nimmt einen schon mit. So war es nicht verwunderlich, dass am Ende von Max Frischs Drama erst einmal Stille herrschte im Publikum, die Kehlen zugeschnürt waren, bevor der Jubel hervorbrechen konnte über die hervorragende Gesamtleistung des Ensembles unter der Ägide von Wolfram Steininger. 

Den jugendlichen Schauspielern war es gelungen, eine derart beklemmende Atmosphäre zu schaffen und durch die Intensität ihrer Spielweise dem Stück eine solche Aktualität zu verleihen, dass einem als Zuschauer die Luft zum Atmen eng wurde. 

Ein ganz eigenes, ein multimediales Andorra hat Theatermacher Wolfram Steininger in der Turnhalle geschaffen. So weißelt zu Beginn des Stückes nicht nur Barblin (Alesha Heldt) das Haus, sondern auch auf die weißen Vorhänge im Hintergrund werden weißelnde Andorraner in einer Videoaufzeichnung projiziert. Ein weißes, ein unschuldiges Andorra soll dem Zuschauer suggeriert werden. Daran kommen jedoch von Beginn an Zweifel auf, angesichts des Unrates, auf dem dieses Andorra gebaut ist und der deutlich sichtbar unter der Bühne hervorragt. Der Soldat, den Rafael Hartl widerwärtig aggressiv verkörpert, macht dies auch deutlich: „Und wenn ein Platzregen kommt, der saut euch jedes Mal die Tünche herab, als hätte man eine Sau drauf geschlachtet!“ 

Tatsächlich: Was unter der Tünche zum Vorschein kommt, ist nur widerlich: Diskriminierung, Egozentrik, Aggression, Antisemitismus, Vorurteile und Vorverurteilungen. Gerichtet gegen Andri, den vermeintlichen Juden. Herausragend wird dieser dargestellt von Julian Frisch, dem man in der Rolle des Andri seine verzweifelte Suche nach der eigenen Identität unter all den auf ihn einprasselnden Vorurteilen voll und ganz abnimmt. Auch seine Enttäuschung als ihm die Tischlerlehre verwehrt wird, weil sein „Freund“, der Geselle (Ricarda Hamperl), zu feig ist, sich für ihn einzusetzen.  

„Unsereins denkt alleweil nur ans Geld“, sagt Andri und wirft sein Trinkgeld in die Klimperkiste. Dieses Orchestrion dominiert mit unzähligen Schallplatten die Bühne. Durch eine erstaunliche Flaschenzugkonstruktion wird die ausgewählte Platte nach oben gezogen, um dann live abgespielt zu werden. Leo Meierhofer am Saxophon und Johannes Hackl am Piano stellen hier eine lebendig gewordene Musicbox dar und bleiben zugleich voll und ganz in ihren Rollen. Eine geniale Idee von Steininger – ein Bühnenbild, das ohne Frage mit ganz großen Schauspielhäusern verglichen werden kann. 

Zu Beginn des zweiten Teils der Inszenierung herrscht große Aufregung in Andorra: Ein Krieg hängt in der Luft. Und da bringt der Idiot, mit Liebe zum Detail dargestellt von Vincent Steininger, auch schon die Koffer einer „Senora“ (Sophia Baltes) auf die Bühne. Es ist Andris Mutter, die aus dem verfeindeten Nachbarland der „Schwarzen“ nach Andorra kommt, um die Wahrheit zu sagen. Doch es ist zu spät. Weder dem Lehrer (David Binder), noch dem Pfarrer kann Andri jetzt noch glauben, dass er der Sohn eines Andorraners und kein Jude sein soll. Die Lage spitzt sich zu, als die Senora durch einen Steinwurf umgebracht wird. Man macht Andri zum Sündenbock. Die Judenschauer (Jonas Lackerbauer und Benjamin Altmann) entlarven ihn als den, zu dem er von den Andorranern gemacht worden ist, als Juden. 

In der Rolle dieser Typen, die den vermeintlichen Juden Andri in eine Schublade stecken, ihn nicht mehr herauslassen und sich damit schuldig machen, glänzen: Leo Meierhofer als profitgieriger Tischler, Johannes Hackl als arroganter Doktor, Paul Gebhardt als bigotter Pfarrer, Simone Kagermeier als selbstgefälliger Wirt und Katharina Lesch als der Jemand, der jeder von uns sein könnte. Einer nach dem anderen treten sie an sie Rampe, beteuern ihre Unschuld und Ahnungslosigkeit und sind dabei so selbstgerecht, dass man als Zuschauer bei so viel Heuchelei vor Entsetzen erstarren muss.  

Die weißen Vorhänge im Hintergrund werden Schritt für Schritt heruntergelassen, sodass nur Schwärze bleibt. Schwärze und blutrotes Licht. 

Das Stück lässt einen ratlosen Zuschauer zurück, denn es kann die Frage nach dem Warum nicht aufklären. In unerbittlicher Konsequenz geschieht, was sich von Anfang an durch ein immer schwärzer werdendes Andorra andeutet: Der Jude, der keiner ist, muss sterben und niemand kann es verhindern. 

Eine Glanzleistung der ganzen Truppe, aber insbesondere auch eine Meisterleistung in Bühnenbau und Regie, die auch Schulleiter Rudi Zell als solche würdigte und ebenso das Publikum mit stehenden Ovationen. „Theater am RSG geht weit über normales Schultheater hinaus“, meinte auch Sandra Wagner bei der zweiten wieder sehr gut besuchten Aufführung. Ein betroffenes Publikum wird in den Abend entlassen, ein Publikum, dem der Spiegel vorgehalten wurde, ein Publikum das den Worten des Jemand: „Einmal muss man auch vergessen können!“ entgegenschreien möchte: „Nein! Nie!“. 

Autor: Susanne Frisch 

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